Diese Webseite setzt Cookies für folgende Funktionen ein: Anmeldung, Suche, personalisierte Inhalte, Seitenanalyse, Facebook likes.

Auf Wunsch der EU muss explizit darauf hingewiesen werden. Durch Nutzung unserer Website erklären Sie sich damit einverstanden.

Universität Göttingen

Die Georg-August-Universität zu Göttingen

(Aus dem Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1994 der Georg-August-Universität Göttingen)

Die Universität Göttingen, nächst Erlangen die jüngste Universität des alten deutschen Reiches, verdankt ihre Gründung der Personalunion des 1692 geschaffenen hannoverschen Kurfürstentums mit dem Königreich Großbritannien (1714). Sie ließ den in Hannover residierenden Zweig des Welfenhauses von der bis dahin allen Linien gemeinsamen Universität Helmstedt abrücken und gewann den Kurfürsten Georg August (1727-1760), als Georg II. zugleich König von Großbritannien, für den Plan einer Neugründung. Der Stifter, der seiner Gründung den Namen Georgia Augusta verlieh und sich und seinen Nachfolgern das Rektorat vorbehielt, betraute mit der Gründung und dem Kuratorium der Universität einen seiner Geheimräte, den späteren Premierminister (1765) Gerlach Adolph von Münchhausen (1668-1770), der an der damals erfolgreichsten Neugründung, der preußischen Universität Halle (1694), studiert hatte und deshalb für diese Aufgabe, die sein Lebenswerk werden sollte, besonders gerüstet war.

Münchhausen setzte auf das Vorbild Halles gegen die autoritätsgläubige Schultradition der alten Universitäten. Da er für die neue Universität Studenten - aus Halle, Helmstedt, Jena und Leipzig - gewinnen mußte, warb er um Professoren, die diese anzogen, und schuf zugleich Arbeitsbedingungen, die sie zu Leistungen herausforderten. Das Universitätsstatut von 1734 wurde ein Meilenstein der Wissenschaftsfreiheit, weil es den Professoren die Freiheit in Lehre und Publikation und damit auch der Forschung garantierte. Mit der Absage an die "gelehrten Monopole" öffnete es das Tor zu dem ungewöhnlich vielseitigen Lehrangebot der Universität, das fernen Beobachtern schon 1772 das Bild vom "Freihafen" der Wissenschaften eingab und die Philosophische Fakultät im Verlaufe weniger Generationen einen bis dahin ungekannten Reichtum neuer Disziplinen gewinnen ließ. Neue institutionelle und apparative Hilfsmittel kamen hinzu: das Philologische Seminar, der Botanische Garten, die Sternwarte, die Anatomie, vor allem aber die Studenten wie Professoren gleichermaßen zugängliche Bibliothek, deren auf die Bedürfnisse von Studium und gelehrter Arbeit ausgerichtete Bestände und Kataloge als erstes Modell einer wissenschaftlichen Universalbibliothek Schule machten.

Der 1734 mit der ersten Vorlesung ins Leben getretenen, aber erst am 17. September 1737 feierlich eröffneten Universität trat 1751 die Sozietät der Wissenschaften, die spätere Akademie, als Ort der Forschung und der interdisziplinären Diskussion zur Seite, am Sitz der Universität und nicht wie sonst in der fürstlichen Residenz. Die "ohne den Zweck zu lehren, einzig zu neuen Entdeckungen" unter der Präsidentschaft des damals berühmtesten Göttinger Gelehrten, des Schweizers Albrecht von Haller, gegründete gelehrte Gesellschaft wirkte allein durch ihre Präsenz am Ort als Herausforderung an die Professoren, sich durch Forschung zu qualifizieren.

Auf diese Weise wurde in Göttingen der Bund von forschender Wissenschaft und lehrender Universität erneuert, aus dem die meisten der alten, von Leibniz als Stätten der Forschung abgeschriebenen Universitäten längst ausgetreten waren. Die neue Universität Göttingen und die ihr verbundene gelehrte Gesellschaft sorgten in ihrer Wechselwirkung dafür, daß gelehrter Ruf bald nicht mehr durch Belesenheit in den Autoritäten, sondern durch Erfahrung und Erfinden, durch methodische Originalität, durch Erschließen von wissenschaftlichem Neuland zu gewinnen war.

Wenn auch die meisten Studenten des 18. Jahrhunderts Juristen waren, denen ihr Göttinger Lehrer Johann Stephan Pütter das Tor zu einflußreichen Stellen selbst in katholischen Fürstentümern öffnete, so gründete sich der unbestritten erste Rang der Georgia Augusta im Jahre ihres ersten Jubiläums 1787 nicht weniger auf das Werk von Naturforschern und Universalgelehrten wie Albrecht von Haller, von Physikern, die zugleich philosophische Köpfe waren wie Georg Christoph Lichtenberg, von Philologen und Wissenschaftsorganisatoren wie Christian Gottlob Heyne, von weltoffenen und der Gegenwart zugewandten Historikern wie August Ludwig Schlözer, von Ökonomen wie Johann Beckmann, um nur einige Namen zu nennen. Die "Universität für die Welt", in deren Reihen das Ideal der "vollständigen Universität" gepflegt wurde, respektierte selbst Napoleon, dessen Schließungsplänen im Königreich Westfalen (1806-1813) Helmstedt, Gießen und Marburg zum Opfer fielen.

Die Gründung der Berliner Universität durch den früheren Göttinger Studenten Wilhelm von Humboldt (1810) ließ eine Konkurrenz entstehen, die sich auf Dauer als überlegen erwies, zumal die Georgia Augusta in eine schwere Krise geriet. Auf die Hundertjahrfeier mit dem Neubau des Aulagebäudes (1837) bereitete sich in Göttingen eine jüngere Generation vor, die mit Friedrich Christoph Dahlmann, Jacob und Wilhelm Grimm, Carl Otfried Müller, Wilhelm Weber und anderen zu neuen Hoffnungen berechtigte, die sich aber in der Tradition der Universität auch der öffentlichen Verantwortung der akademischen Korporation bewußt war. Im Konflikt mit dem neuen König Ernst August von Hannover um die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes setzten sie ihr wissenschaftliches Gewissen dem in anderen Rechtsvorstellungen verwurzelten Anspruch des Königs entgegen. Die Entlassung der Göttinger Sieben rückte die Georgia Augusta in ihren besten Traditionen in das Blickfeld einer erwachenden und durch den Protest aufgerüttelten deutschen Öffentlichkeit, ließ die Universität aber zugleich geistig verarmen und Studenten verlieren.

Obwohl die preußische Annexion von 1866 die welfische Landesuniversität in eine Provinzuniversität verwandelte, hatte man in der neuen Hauptstadt Berlin nicht vergessen, was Göttingen als Universität bedeutete. Die Bibliothek erhielt einen Neubau; die Kliniken wurden neu errichtet, nach der Jahrhundertwende auch die Physikalischen Institute und die Seminargebäude. Gezielte Berufungen sorgten dafür, daß die Mathematik mit David Hilbert und Felix Klein Herausforderungen von Carl Friedrich Gauß einlöste. Gleichzeitig traten in Physik und Chemie die auf Wilhelm Weber und Friedrich Wöhler aufbauenden Naturwissenschaften in den weltweiten Wettbewerb um Erkenntnisse, um neue Disziplinen, um weltweit anerkannte Preise ein. Die Entdeckerfreude der Physiker und Chemiker übertrug sich auf die ihnen zur Seite stehenden Handwerker. Sie gründeten in neuer Selbständigkeit die Göttinger feinmechanische Industrie.

Die Ernte dieses Aufbaus mit langem Atem verdichtete sich in den Jahren der Weimarer Republik. In der Mathematik und in der Physik, in der Chemie und in der Biologie, in den Geowissenschaften war die Georgia Augusta damals der Ort epochemachender wissenschaftlicher Entdeckungen, aber zugleich auch der Sammlung vieler junger Talente, die am "Geist von Göttingen" teilhaben wollten.

Die nationalsozialistische Rassen- und Kulturpolitik vertrieb seit 1933 mehr als fünfzig Professoren und eine nicht minder große ZahI jüngerer Doktoren mit großen Zukunftshoffnungen. Sie setzte Göttingen ein zweites Mal der provinziellen Verkümmerung aus. Ganze Institute, wie das von amerikanischen Stiftern erbaute Mathematische Institut, leerten sich fast vollständig. Rassische Verfolgung und parteiliche Wissenschaft gingen Hand in Hand. Das Führerprinzip ließ den Geist der akademischen Korporation und ihr wissenschaftliches Ethos, deren Kraft eben noch lebendig gewesen waren, verkümmern oder "in Nischen" emigrieren.

Der politische und militärische Zusammenbruch des Jahres 1945 war die Chance eines Neubeginns, den die Georgia Augusta mit dem Vorlesungsbeginn am Inaugurationstag als eine der ersten deutschen Universitäten nutzte. Professoren, die ihre Universitäten verloren hatten, trugen zusätzlich dazu bei, daß die mit geistigem Hunger die Universität aufsuchende "Kriegsgeneration" Lehrern wie Hermann Rein und Herbert Schöffler, Herman Nohl und Ludwig Raiser, Hermann Heimpel und Carl-Friedrich von Weizsäcker begegnete, die ihr Maßstäbe und über das Fachstudium hinausgehende geistige Inhalte vermittelten. Aus dieser Erfahrung gewann die Georgia Augusta 1955 die innere Kraft zum erfolgreichen Widerstand gegen einen umstrittenen Kultusminister, in dessen Gefolge hochbelastete Professoren der NS-Zeit an die Universität zurückzukehren hofften.

Das Land Niedersachsen, dessen Landesuniversität die Georgia Augusta 1946 wurde, war angesichts der neuen Herausforderungen der Bildungspolitik in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts bereit, den Ausbau der Universität in neue Dimensionen voranzutreiben. Das Göttingen-Gesetz schuf die Voraussetzungen dafür, das notwendige Gelände für die Instituts- und Klinikbauten im Norden der Stadt Göttingen zu gewinnen, wo nach den Instituten der Landwirtschaftlichen Fakultät die Gebäude der Forstlichen Fakultät, der Chemischen und Geowissenschaftlichen Institute und das zentrale Klinikum entstanden und das Landschaftsbild veränderten.

Die anderen Fakultäten bezogen seit den frühen 60er Jahren neue Gebäude im Geisteswissenschaftlichen Zentrum; eine Reihe von Disziplinen fanden oder finden ihre Heimstatt in den benachbarten ehemaligen Kliniken der Medizinischen Fakultät. Den Mittelpunkt des Geisteswissenschaftlichen Zentrums wird die neue Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek bilden, wenn sie im Lichtenberg-Jahr 1992 ihre Pforten öffnet. Desiderate bleiben freilich die Neubauten für die Physikalischen Institute, für die Mathematik und die Biologie, die erst die Naturwissenschaftliche Fakultät im Nordgebiet wieder zusammenführen werden.

Die klassische Vierzahl der Fakultäten wurde in Göttingen zuerst 1922 mit der Gründung der Naturwissenschaftlichen Fakultät überboten. Mit der Eingliederung der Forsthochschule Hannoversch-Münden trat 1939 die Forstliche Fakultät in die Universität ein. 1952 entließ die Naturwissenschaftliche Fakultät die Landwirtschaftliche Fakultät aus ihren Reihen. Die Aufnahme der Hochschule für Wirtschaft und Arbeit Wilhelmshaven führte 1962 zur Gründung einer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Im Gefolge der Übergangssatzung von 1969 entstanden unter dem Dach gemeinsamer Fakultäten neue Fachbereiche, die erst mit dem Organisationsplan von 1980 ihre definitive Gestalt erhielten, nachdem zuvor noch aufgrund des Hochschulgesetzes von 1978 die Abteilung Göttingen der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen als Erziehungswissenschaftlicher Fachbereich in die Universität eingegliedert worden war. Seit dem Organisationsplan von 1980 bestehen vierzehn Fachbereiche, von denen sechs inhaltlich den früheren Fakultäten entsprechen.

Mit dem baulichen Ausbau Hand in Hand ging ein personeller Ausbau, der die Universität, die 1950 mit etwa 5000 Studenten überfüllt erschien, bis 1990 in mehreren großen Schüben bis auf 30000 Studenten anwachsen ließ. Vergleichbar mehrten sich, wenn auch mit der Zeit immer weniger synchron, die Stellen der Professoren und der Assistenten, aber auch der Mitarbeiter in der Universitätsverwaltung, in den technischen Diensten, in der Bibliothek und in den Pflegediensten.

Die politischen und bildungspolitischen Spannungen, die sich in den Studentenprotesten der späten 60er Jahre entluden, führten die Georgia Augusta in innere Zerreißproben; sie hatten aber auch die Kraft zum Widerstand wie zum Ausgleich, als allzu eilfertige politische Rezepte die Strukturen der Universität und damit ihre Leistungstraditionen in Gefahr brachten. Mit dem Niedersächsischen Hochschulgesetz von 1978 endete für die Universität der traditionelle Dualismus ihrer Verfassung, indem an Stelle von Rektor und Kurator Präsident und Kanzler als Sachwalter einer Einheitsverwaltung traten und Fakultäten von Fachbereichen abgelöst wurden. Eine neue Institutsorganisation beendete das Nebeneinander von Fakultäten und Seminaren, bewahrte aber die bewährten Instrumente wissenschaftlicher Arbeit. Die neue inneruniversitäre Mitbestimmung der Gruppenuniversität spielte sich in ihren Formen so ein, daß sie Konflikte in der Regel auffangen und lösen kann.

Von der Georgia Augusta sagte die niedersächsische Hochschulstrukturkommission in ihrem 1990 vorgelegten Bericht, daß sie mit ihrem Konzept einer "in Grenzen" vollständigen Universität einen wichtigen Beitrag zur Pflege der Wissenschaften leiste, der in der Bundesrepublik nur von wenigen Universitäten und in Niedersachsen nur von dieser Universität erbracht werde. Es wird darauf ankommen, diese Einsicht den Trägern politischer Entscheidungen immer wieder neu zu vermitteln und hinzuzufügen, daß diese über mehr als 250 Jahre wahrgenommene Funktion kein politischer Auftrag ist, sondern die in der Selbstverantwortung einer akademischen Korporation für die Pflege der Wissenschaft in Forschung, Lehre und Studium eingelöste Aufgabe, für die jede Generation der Georgia Augusta neu gewonnen wurde.

Norbert Kamp